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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 10.06.2003


Nouvelle Vague auf taiwanesisch
Kirsten Eisenberg

Inspiriert durch den französischen Regisseur Francois Truffaut spricht auch Tsai Ming-Liang in seinem preisgekrönten Film "What Time Is It There?" über menschliche Entfremdung und Einsamkeit




"What Time Is It There" - Tsai Ming-Liang spricht in seinem Film über Trennung und Distanz zwischen sich nahestehenden Menschen. Mit traumartigen Sequenzen weckt er die Hoffnung, Phasen tiefer Traurigkeit überstehen zu können. Seine Feinfühligkeit im Umgang mit einem eher schmerzlichen Thema wurde gleich mehrfach ausgezeichnet (Beste Regie beim Bangkok Film Festival 2001, Beste Kamera, Beste Regie, Preis der Jury auf dem Chicago Film Festival 2001 und Großer Preis der Technik auf den Internationalen Filmfestspielen Cannes 2001).

Einsamkeit und Trauer trennen und verbinden die drei Protagonisten des Films in seltsam paradoxer Weise.
Der plötzliche Tod seines Vaters macht Uhrenverkäufer Hsiao Kang (Hsiao Kang-Sheng) schwer zu schaffen. Er findet keinen Schlaf mehr, läuft einem verwundeten Tier gleich durch die nächtlich stille Wohnung.
Seine Mutter (Lu Yi-Chiang), die am Tod des geliebten Ehemanns zu zerbrechen droht, zieht sich in ihre eigene Welt der Trauer zurück. Wie unter einer Käseglocke abgeschottet kann keiner der beiden aus seinem Schmerz herausfinden und dem anderen helfen.

Als Hsiao Kang wie jeden Tag seine Uhren auf einer Brücke in Taipeh anbietet, tritt Shiang-Chyi (Chen Shiang-Chy) in sein Leben: Sie will bei ihm eine Uhr kaufen, bevor sie ihre Reise ins ferne Paris antritt. Doch seine angebotene Ware gefällt ihr nicht - sie will stattdessen Hsiao Kangs persönliche Armbanduhr erwerben. Fasziniert von der jungen Frau lässt Hsiao sich auf das Geschäft ein. Von nun an geht ihm Shiang-Chyi nicht mehr aus dem Sinn...

Psychologisch durchdacht beleuchtet Tsai Ming-Liang nun, wie jeder der drei in seinem ganz persönlichen Trauma gefangen ist.
Der junge Hsiao versucht die Trauer um den Vater zu verdrängen, indem er sein ganzes Denken von nun an dem unbekannten Mädchen in Paris widmet - wie besessen stellt er sämtliche Uhren auf die für sie aktuelle, europäische Zeit. So überwindet er eine andere Distanz, während die zu seinem Vater unüberbrückbar bleiben wird.
Seine Mutter steckt all ihre Kraft in religiöse Handlungen und bereitet dem Verstorbenen liebevoll die Speisen zu, die er doch immer so gern aß und ihn sicherlich den Weg zu ihr zurückfinden lassen! Alles Licht vertreibt sie aus dem Haus und ihrem Leben. Bald lebt sie selbst mehr im Reich der Toten als unter den Lebenden.
Und Shiang-Chyi? Klein und verloren, unverstanden von den hektischen Parisern um sie herum, sitzt sie stumm und blass zwischen lauter Fremden im kühlen Neonlicht der Metro, verbringt einsame Stunden im kargen Hotelzimmer. Um der Anonymität zu entgehen, verbringt sie viel Zeit in Cafés, wo sie wie durch eine unsichtbare Wand aus Eis von den anderen isoliert bleibt. Auch sie beginnt, sich an den Jungen mit den Uhren zu erinnern...

Langsam tun sich fast magische Parallelen in den Handlungen der drei Personen auf, die den ZuschauerInnen zu sagen scheinen möchten "Du bist in Deinen Ängsten nicht allein, es gibt eine andere, unsichtbare zwischenmenschliche Nähe...".
Wenn sich Hsiao Kang mit französischem Rotwein in Taiwan betrinkt, muss sich Shiang-Chyi Tausende von Kilometern entfernt in der Toilette einer Bar übergeben. Und als er einen Truffaut-Film anschaut, ist sie es, die auf einer Parkbank Truffauts Jean-Pierre Léaud begegnet, der ihr seine Telefonnummer überreicht, als sie in ihrem Rucksack nach der von Hsiao Kang kramt.
Schließlich suchen alle drei Einsamen erfolglos Ablenkung in sexuellen Erlebnissen - die Mutter befriedigt sich vor der Fotografie ihres Mannes selbst, Hsiao geht zu einer Prostituierten und Shiang-Chyi sucht die körperliche Nähe einer jungen Frau, in deren Pariser Hotelzimmer sie aufgenommen wurde.

Stumme Traurigkeit und seelische Kälte transportieren vor allem die ruhigen und doch unendlich aussagekräftigen Bilder, die Worte überflüssig machen: Die Mutter offenbart dem stummen Kugelfisch durch die Glasscheibe eines Aquariums hindurch ihr verzweifeltes Inneres.
Ganz und gar in kühles Blau getaucht ist das Zimmer der jungen Frau, bei der Shiang-Chyi vergeblich nach etwas Wärme sucht.
Und winterlich-weiß sitzt sie schließlich schlafend und still an einem Brunnen. Im Bild absoluter Melancholie treibt nur ein Koffer auf der Wasseroberfläche vorbei.

Der französische Kameramann Benoît Delhomme verstand es, Miang-Langs Stil auch in den in Paris gedrehten Szenen zur Entfaltung zu bringen. "In seinen Filmen bewundere ich sehr seine Arbeit zum Raum, diese Mischung aus sehr großer Abstraktion und der Wirklichkeit...Es ist die Suche nach der perfekten Lesbarkeit der Bilder, aber auch der Wunsch, eine gewisse Anzahl von Zeichen in das Bild einzuschleusen", erklärt Delhomme.

Tsai Ming-Liang, 1957 in Malysia geboren, gewann schon 1994 den Goldenen Löwen in Venedig mit "Vive l`amour" und 1997 den Silbernen Bären auf der Berlinale für "The Hole". Als einer der wichtigsten Vertreter der "Nouvelle Vague" in Taiwan verweist er in "What Time Is It There?" an mehreren Stellen auf sein filmische Vorbild Francois Truffaut. Die Schauspieler für seine Filme wählt er nicht aufgrund ihrer professionellen Erfahrung, sondern wegen ihrer einzigartigen, natürlichen Ausdruckskraft. "Hsiao Kang spielt nicht vor der Kamera, er "ist" einfach".



What Time Is It There? - Ni Nei Pien Chi Tien
Regie: Tsai Ming-Liang
Taiwan/ Frankreich, 2001, 116 Minuten
DarstelerInnen: Hsiao Kang-Sheng, Chen Shiang-Chyi, Lu Yi-Ching, Miao Tien
Arena Films/ Homegreen Films, Verleih gefördert durch die Filmstiftung NRW
Kinostart: 12. Juni 2003


Kunst + Kultur

Beitrag vom 10.06.2003

AVIVA-Redaktion